Der folgende Text ist das Originalmanuskript der Kuratorin in der Fachabteilung Amerikanische Archälogie des Ethnologischen Museums Berlin, Dr. Maria Gaida, für einen Artikel im Tagesspiegel.
„Im Küstentiefland von Guatemala wurden Dutzende von solchen dickbäuchigen, imposanten Figuren gefunden, die eher verniedlichend „Barrigones“, der kleine Dicke genannt werden. Vor annähernd 2500 Jahren haben Steinmetze diese rätselhafte Figur aus einem gut 120 cm hohen und 800 Kilogramm schweren, vom Wasser abgeschliffenen Geröllblock geschaffen. Er wurde auf der Vorderseite mit Steinwerkzeugen bearbeitet, die Rückseite hat man – und das ist das Besondere an diesem Barrigón – als rohen Felsen belassen. Form und Größe des natürlichen Steinblocks bedingten die Größe der Figur. Der Geröllblock wurde mit den notwendigen expressiven Details so bearbeitet, dass die Transformation in eine grobe, archaische Figur erreicht wurde, die die Menschen erkennen und wertschätzen konnten.
Der unproportional große Kopf mit einem deutlich herausgearbeiteten Scheitel sitzt halslos auf dem Oberkörper auf. Die schweren Lider über den geschlossenen Augen wirken angeschwollen. Die runden Ohrpflöcke und ein Kragen aus dreieckigen Verzierungen sind der einzige Schmuck des Barrigón. An dem dicken Bauch ist der hervortretende Nabel auffällig. Die angewinkelten Arme umklammern weinen geschlechtslosen Körper.
Wer aber ist dargestellt? Wir können nur mutmaßen, welche Bedeutung solche Figuren für die Menschen im vorchristlichen Jahrtausend hatten. Nicht auszuschließen ist, dass ein lokaler Herrscher portraitiert wurde, wahrscheinlicher aber ist, dass ein verehrungswürdiges höheres Wesen dargestellt ist.
In der Forschungsliteratur wird darauf hingewiesen, dass die Gestalt gewisse Übereinstimmungen mit Darstellungen eines „fetten“ Gottes aufweist, der aus anderen Regionen Mesoamerikas bekannt ist. Der „fette“ Gott wird dort nicht nur mit einem großen, vorgewölbten Bauch mit hervorstehendem Nabel abgebildet, sondern auch mit schweren Augenlidern über geschlossenen Augen. Da diese Abbildungen aber aus späteren archäologischen Perioden stammen, sind derartige Vergleiche umstritten.
Die Küstenebene und die südlichen Abhänge der Vulkankette in Guatemala gehören zu den noch am wenigsten erforschten Regionen Mesoamerikas. Das Gebiet bot günstige geologische und klimatische Bedingungen für eine frühe Besiedlung, mit fruchtbaren Böden, Flüssen und Zugang zum Meer sowie einer reichen Flora und Fauna. Die Barrigones sind Überreste eigenständiger regionaler Entwicklungen von Häuptlingstümern in dieser Region, mit zum Teil schon komplexeren Siedlungen. Conceptión in der guatemaltektischen Provinz Escuintla, der Herkunfsort dieses Barrigóns, ist nur einer von zahlreichen Fundorten aus der späten Präklassik.
Die Barrigones in weiter entfernten Regionen, etwa in Kaminaljuyú, das heute in einem Vorort von Guatemala-Stadt liegt, in San Salvador und an der Pazifikküste des mexikanischen Bundesstaates weisen viele Übereinstimmungen in ihrer Gestaltung und Machart auf und werden daher als Hinweis für Handels- und Austauschbeziehungen interpretiert.
Der Berliner Barrigón wurde zusamen mit zwei weiteren um 1860 in der Nähe der alten Eisenbahnstation der Finca Conceptión bei Rodungen für eine Kaffeeplantage gefunden. Sie gehörte dem französischen Baron Oscar du Teil. Nach dessen Tod 1879 machte der Onkel und Sachwalter des minderjährigen Erben zwei der drei Barrigones dem Direktor des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin , Adolf Bastian, zum Geschenk. Im Frühjahr 1885 schickte der Ministerresident des Deutschen Reiches, Werner von Bergen, die beiden Steinskulpturen zusammen mit Steinmonumenten (vgl. dazu den Beitrag „Cozumalhuapa Stelen revisited“) vom Fundort Cotzumalhuapa, die Bastian dort für sein Museum erworben hatte, auf den Weg nach Berlin. Im September desselben Jahres erreichte die Sendung auf dem Seeweg Hamburg, von wo sie mit der Bahn nach Berlin transportiert wurde. Erst 1970 wurde das Objekt zusammen mit dem zweiten Barrigón im Mesoamerika-Saal des Neubaus von Fritz Bornemann im damaligen Museum für Völkerkunde in Dahlem präsentiert.
Im Humboldt Forum wird diese gut 150 Jahre nach ihrer Entdeckungnoch immer rätselhafte Skulptur zusammen mit ihrem „Bruder “ und weiteren imposanten Steinskulpturen aus dem guatemalketischen Küstentiefland zu sehen sein.“
(Anm.: Die erwähnten Steinskulpturen werden in dem heute noch Schweizer Saal genannten Raum auf der zweiten Etage des Humboldt Forums aufgestellt werden, in dem auch das Kunstwerk von Frau Deball, das die Freunde des Museums gestiftet haben, eine große Stirnwand füllen wird. (vgl. dazu: Beiträge „Wandkonstruktion Codex Humboldt und Wandkonstruktion II“)